Hansluzi Kessler

DAME MIT HUT


Alp-Idyll am Saaser Berg und Aufstieg in die Sommerfrische St. Antönien


Maiensäss Plangga am Saaser Berg     in: P&H Nr. 98 und 100 vom 12. Und 19. 12. 2020

Wo befinden sich diese Ställe? Unter diesem Titel wurde in der P&H-Zeitung Nr. 98 vom 12. Dezember 2020 eine alte bunte Ansichtskarte mit der Aufschrift „Alp Planca im Prättigau“ gezeigt und die Leserschaft um Hinweise gebeten, wo diese Alp wohl zu finden wäre. Schon in der übernächsten Nummer konnte die Lösung präsentiert werden, hatten sich doch beachtlich viele Leser gemeldet. Und Frau Zimmermann-Walli aus Saas schrieb, dass es sich um ihren Maiensäss „Planggen“ am Saaser Berg handle, wo sie noch jedes Jahr im Frühling und im Herbst ihre Kühe melkten. Somit war das Rätsel um die vermeintliche Prättigauer Alp gelöst. Dennoch lohnt es sich, die Karte noch etwas näher zu betrachten.

Die Fotografie zeigt mehrere Ökonomiegebäude, etwas Hornvieh und eine Personengruppe, die einen Mann, drei Frauen und vier Kinder umfasst. Die modischen Kleidungen lassen den Schluss zu, dass es sich dabei um Feriengäste mit eher städtischer Herkunft handelt. Darauf verweisen auch die Blumensträusschen, vermutlich sind es Alpenrosen.

In meiner eigenen Sammlung befindet sich seit geraumer Zeit eine historische Ansichtskarte mit der wenig hilfreichen Beschriftung „Alp-Idyll“, die eindeutig dieselben Gebäude zeigt. Dies lässt sich an mehreren Details nachweisen, auch wenn die Bilder in Gegenrichtung aufgenommen worden sind. Das Hornvieh hat sich aus dem Staub gemacht, dafür gibt sich ein Alpschwein die Ehre. Und das Verblüffendste: All die modisch gekleideten Personen sind auch auf dieser  Aufnahme zu sehen! So der Mann mit Melone und Wanderstab, die elegante Frau mit dem flachen, breitkrempigen Damenhut, die beiden nun sitzenden Schwesternpaare mit den Blumensträusschen und auch die beiden Buben mit den weissen Hemden. Dazu gesellen sich neun weitere Personen, deren einfache Kleidung auf einheimische Landbevölkerung hindeutet. Dies wird noch unterstrichen durch die hölzernen Traggefässe wie Milcheimer und Heuzumä, die offensichtlich für den Fotografen zur Schau gestellt werden. Das Ganze erinnert an das Schlussbild eines Volkstheaters. Es handelt sich  ohne Zweifel um eine arrangierte Gruppenaufnahme, wie es zu jener Zeit nicht unüblich war. Spontane Schnappschüsse waren damals mit den sperrigen Installationen und langen Belichtungszeiten kaum möglich. So verharrten die abgelichteten Personen regungslos, bis das Bild im Kasten war. Nur das Alpschwein benahm sich daneben! 


Alp-Idyll    Rathe-Fehlmann, Basel  2642   Bildseite                      Sammlung Hansluzi Kessler


Alp-Idyll    Rathe-Fehlmann, Basel   2642 Bildseite Ausschnitt     Sammlung Hansluzi Kessler

Dass ausgerechnet auf einem Saaser Maiensäss Bergbauern und Touristen gemeinsam in beachtlicher Zahl posieren, ist schon bemerkenswert. Man hätte so etwas eher in Seewis, Pany, St. Antönien oder Klosters erwartet. Irgendwie kommt einem der Besuch der Familie Sesemann aus Frankfurt beim Alpöhi in den Sinn; nur Klaras Rollstuhl fehlt. Das Bild deutet darauf hin, dass damals Feriengäste zu Hauf ins Prättigau und andere Alpentäler kamen, um die Sommerfrische zu geniessen. Sie flohen aus den staubigen, lärmigen und hitzegeplagten Städten und suchten Erholung in der frischen und sauberen Bergluft und schätzten die Ruhe und den Schatten der Wälder. So schossen an vielen Orten Kurhäuser, Pensionen, Kinderheime und Gaststätten wie Pilze aus dem Boden. Die Gastgeber hielten Ansichtskarten für ihre Gäste feil, die ihren Freunden und Bekannten nur allzu gerne mitteilten, wo sie ihre Ferien verbrächten und genössen. So machten sie zugleich Gratiswerbung für ihre Gastgeber, und diese konnten es sich somit leisten, Fotografen und Verlage zu beauftragen, möglichst ansprechende Ansichtskarten herzustellen. Es wäre daher interessant zu wissen, wer die in der Zeitung abgebildete Karte hergestellt hat und wann und von wo aus sie damals versandt worden ist. Der Poststempel gibt da sicher Auskunft. Und was den Verlagshinweis angeht, so vermute ich, dass es derselbe sei wie auf meiner Karte.

Meine Karte stammt nämlich aus dem Verlag Rathe-Fehlmann, Basel, und aufgegeben wurde sie am 24. 07. 1908 in St. Antönien-Castels. Adressat war ein August Wiedemann in  Lindenberg im deutschen Allgäu, und der handschriftliche Text lautete: “L. A. Habe gestern schon einen Ausflug gemacht bis über 1800 m  u. pflückte mir einen grossen Strauss Alpenrosen nun kannst du dir denken, dass es mir gut geht. Es grüsst d. herzl. d. Rosine“.


Alp-Idyll   Rathe-Fehlmann, Basel   2642 Adressseite  Sammlung Hansluzi Kessler

Zusätzlich zum besonderen Bildmotiv waren es Poststempel und Verlagsvermerk, die mich motivierten, bei Ricardo auf dieses Los zu bieten und es auch glücklich zu ersteigern. Dabei hatte ich keine Ahnung, ob tatsächlich eine hiesige Alp abgebildet sei. Selbst Thomas Bardill, Autor eines Buches über die Alpen unseres Tales, konnte mir nicht weiterhelfen. Und nun bin ich dank P&H im Bild. Und ich bin froh, diese Karte erworben zu haben, ist sie doch ein weiteres Mosaiksteinchen in einer Reihe gleichartiger Ansichtskarten aus demselben Basler Verlag, die schon seit Jahren in meiner Sammlung schlummern und lauter Motive aus der Talschaft von St. Antönien aufweisen. Zeit, sie wieder ans Tageslicht zu holen.
Mehrheitlich sind diese Karten zwischen 1905 und 1915 in St. Antönien-Castels abgestempelt worden, vereinzelt auch in Pany und einmal gar in Küblis. Auf ihnen lässt sich eine fünfköpfige Touristengruppe begleiten, die durch die wilde Schanielenschlucht wandert und nach mehreren Fotohalten schliesslich das Bergdorf erreicht. Dass es sich dabei um Personen handeln muss, die auch auf dem Saaser Maiensäss Modell gestanden haben, legt nur schon der elegante Damenhut nahe. Auch die beiden Buben sind mit von der Partie, hingegen fehlen das erwachsene Frauenpaar und die beiden Mädchen. Dafür sind es nun zwei männliche Begleiter und sicher auch der Fotograf selber. Dieser bleibt allerdings auf allen Abbildungen unsichtbar, denn Selbstauslöseraufnahmen können aufgrund der Distanz zwischen ihm und seinen Modellen wohl ausgeschlossen werden. Während die Wandergruppe im Tobel einer Krämersfrau mit ihrem hölzernen Tabulett begegnet, gesellt sich kurz vor  Erreichen des Ziels ein einheimisches Mädchen dazu. Und im Dorfkern ist es gar die zweispännige Postkutsche, die mit ins Bild genommen wird und die betreffende Ansichtskarte dadurch zu einem begehrten Sammelobjekt macht. Die Postkutsche war neben der Eisenbahn damals in Graubünden noch immer das wichtigste Verkehrsmittel, denn Autos durften im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts bei uns per Volksentscheid keine fahren. Und sicher legte man auch zu Fuss erstaunliche Strecken zurück und nahm beim Gehen und Tragen Strapazen  in Kauf, die uns heute erstaunen. Eine weitere Ansichtskarte zeigt die Frau mit Hut und drei Kindern schliesslich in Partnun vor der grossartigen Kulisse der mächtigen Sulzfluh. Und zusätzlich zum breitrandigen Damenhut schützt ein modischer Sonnenschirm vor den bräunenden Strahlen unseres Muttergestirns. Vornehme Blässe war damals noch geboten, wollte man sich von der Landbevölkerung mit ihrer sonnengegerbten und gebräunten Haut abheben. So vermitteln uns diese Aufnahmen einen Eindruck vom Tourismusgeschehen jener Zeit, als der bäuerliche Lebensraum zum Erholungsraum  einer eher städtischen Klientel wurde - anfänglich im Sommerhalbjahr und später dann immer stärker zur Winterszeit, stets begleitet und gefördert durch Fotografen und Werbegrafiker mit ihren Ansichtskarten, Plakaten und Broschüren. Diese verdienten so ihr Brot und verhalfen den Ferienorten und ihren Angeboten zu grosser Bekanntheit. Und last but not least, ihre bunten Ansichtskartengrüsse bereiteten jeweils grosse Freude und wurden in jener Zeit wie wild gesammelt. Heute tun das nur noch ein paar Nostalgiker. Wunderbar, dass das Exemplar vom Maiensäss Plangga ein gutes Jahrhundert überlebt und den Weg in ünschi Ziitig gefunden hat!

  

 

DAME MIT HUT Nachlese

Als Besitzer der ersten in der Zeitung abgebildeten Ansichtskarte entpuppte sich - nicht ganz unerwartet - mein Sammlerkollege und Nachbar Vali Jost-Pedotti. Zwar enthält auch seine Karte keine Angaben zur abgebildeten Örtlichkeit, aber er hatte Kenntnis eines weiteren Exemplars in anderen Sammlerhänden, das mit „Alp Planca im Prättigau“ beschriftet ist. Aus Neugierde, wo sich diese Alp wohl befinden möge, bat er die Zeitung um eine Veröffentlichung seiner Karte. Des Rätsels Lösung ist nun dank der Mithilfe zahlreicher Leserinnen und Leser gefunden.

Wie vermutet, stammt auch seine Karte aus dem Basler Verlag Rathe-Fehlmann (R.-F. B.    Nr. 3427).  Interessanterweise ist sie in Mürren im Berner Oberland abgestempelt worden. Der Verlag hat sie demnach für Kunden in verschiedenen Tourismusregionen hergestellt, deshalb fehlt wohl auch eine genaue Ortsangabe. Sonst hätten die Gäste des Grand Hotels in Mürren wohl ein anderes Sujet nach England gesandt. So besitzen wir beiden Sammler unterschiedliche Ansichtskarten derselben Örtlichkeit, ohne dass diese jeweils angegeben wäre.


Adressseite der Karte von Vali Jost-Pedotti, am 30. 07. 1907 in Mürren abgestempelt

In den Sommern 1907 und 1908 sind die beiden Ansichtskarten von der Schweiz aus ins Ausland gereist, die eine von Mürren nach England, die andere von St. Antönien nach Deutschland. Dass sie mehr als hundert Jahre danach nun im Schierser Unterdorf Nachbarn geworden sind, ist wirklich witzig! Dazu ist ihr Schicksal typisch für die Ansichtskarten jener Zeit: Früher hinaus in alle Welt und heute wieder zuhause! Darin widerspiegelt sich die Sammelleidenschaft von damals ebenso wie das erneute Interesse an den kleinen papierenen Dokumentchen, die einen Blick auf eine spannende Vergangenheit erlauben. 


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